Samstag, 26. September 2015

Katalonien bricht mit Spanien





Ursprünglich hatte sich das neue Spanien nach dem Tod Francos die deutsche und die österreichische Verfassung zum Modell nehmen wollen, um das zentralistische, von Madrid aus regierte Königreich zu demokratisieren und zu dezentralisieren. Im Prinzip hätte Spanien in vier Bundesländer aufgeteilt werden müssen, um das Grundproblem Spaniens zu lösen, wie nämlich ein respektvolles Zusammenleben von Katalanen, Basken, Galiciern und Spaniern oder Kastiliern (mit Einschluss der Andalusier) in einem einzigen Staat möglich sei.


Der erste gravierende Fehler war, dass man die deutsche Bundesländerlösung falsch adaptierte und glaubte, statt vier über Jahrhunderte historisch gewachsene Länderteile zu ihrem Recht kommen zu lassen, ein Puzzle auf der Basis der Provinzeneinteilung von 1833 einrichten zu sollen. Es kam zu dem berühmten „café para todos“: jedem kleinen Territorium ein bisschen sogenannte Autonomie. Der Dezentralisierungsgedanke (der die Alliierten bei der Bundesländereinteilung geleitet hatte) wurde damit ins Gegenteil verkehrt. Das französische Modell der Departamentalisierung, das die jakobinische Vorherrschaft der Hauptstadt Madrid zementierte, war denkbar ungeeignet, das katalanische, baskische und galicische Problem zu lösen.

Der zweite gravierende Fehler war, dass der erste demokratische Entwurf der spanischen Verfassung unter der drohenden Präsenz des nachfranquistischen Militärs und eines eventuellen Militärputsches (wie er denn auch am 23. Februar 1981 von Tejero tatsächlich versucht wurde) sofort wieder zentralistisch zurückgefahren wurde und die vorgesehenen Kompetenzübertragungen („transferencias“) von der Zentralregierung auf die „Autonomien“ nur halbherzig in die Verfassung aufgenommen wurden und auf jeden Fall so unscharf formuliert waren, dass einer Rückkehr zum Zentralismus weiter Auslegungsspielraum offen blieb.

Die demokratische Aufbruchsstimmung unter der ersten sozialistischen spanischen Regierung hatte die Katalanen veranlasst, bei einem Neuaufbau eines demokratischen spanischen Staates kräftig mitzuwirken. Doch seit der Jahrtausendwende wurde, zunächst nur Einzelnen, bald aber auch einem größeren Teil der Bevölkerung und jetzt inzwischen der Mehrheit der Landesbevölkerung klar, dass Katalonien in eine Falle getappt ist. Dass sich der Weg eines Zusammengehens mit dem immer noch im tiefsten zentralistisch fühlenden Spanien als Sackgasse erweist. In letzter Zeit bricht die vehemente antikatalanische Einstellung der Mehrheit der Spanier derartig unverblümt zu tage, dass die Mehrheit der Katalanen, einschließlich der eingewanderten Spanier, überzeugt ist, dass Spanien an einem multikulturellen Staat nicht interessiert ist.

Es stellt sich für jeden immer deutlicher heraus, das ein Großteil des spanischen Establishments von jeher gegen die Dezentralisierung gewesen ist und nur für eine Weile stille gehalten hatte. Mit Macht und in Gestalt der rechtslastigen sogenannten „Volks“partei, die am Regierungssteuer ist, versucht Spanien das Ruder zurückzuwerfen. Man hat ein Gesetz verabschiedet, das ein Referendum, das die Volksmeinung über die politische Zukunft demokratisch abfragt, unter Strafe stellt. Das spanische Verfassungsgericht ist politisch besetzt und entscheidet parteiisch und hat dadurch alles Prestige verspielt. Die Entscheidungen dieses Verfassungsgerichts sind sogar schon als rassistisch kritisiert worden, weil einem spanischen Kind in der Schule mehr Rechte als einem katalanischen Kind zugesprochen wurden. Die Regierung kann jedenfalls damit rechnen, dass alle antikatalanischen und zentralisierenden Gesetze bei diesem Gericht durchgehen und dass alle Versuche Kataloniens, die spanische Verfassung im Sinne ihrer ersten Verfasser anzuwenden, abgeschmettert werden.

Gesetze, die das spanische Parlament mit absoluter Mehrheit laufend beschließt, schnüren Katalonien immer mehr den Hals zu. Besonders an die katalanische Sprache und das katalanische Schulsystem wird Hand angelegt. Der spanische Erziehungsminister (den es wie im deutschen Bundesstaat garnicht geben dürfte) regiert in die Kompetenzen Kataloniens hinein und hat erklärt, sein Ziel sei es, die katalanischen Schüler wieder zu „spanisieren“. (Es klingt nach Francos Dekreten, als er in Katalonien einmarschierte.) Er tritt damit (und mit voller Rückendeckung durch die spanische Regierung) in ein in Katalonien besonders heikles Fettnäpfchen. Die Hasstiraden von Spaniern gegen Katalanen im Internet nehmen kein Ende und selbst spanische Politiker geben Äußerungen gegen Katalonien von sich, die sich weit unter einem europäschen Mindeststandard von politischem Niveau bewegen.

Was in spanischen Zeitungen täglich über Katalonien geschrieben wird, ist hanebüchen. Eine Gruppe junger Spanier, die sich mit zum Hitlergruß erhobenen Armen abbilden lassen, will alle Balkone, die die katalanische Unabhängigkeitsflagge tragen, fotografieren und mit Adressen auflisten, damit die Guardia Civil nach dem ersehnten Umschwung in Spanien sogleich weiß, wen sie verhaften muss. Viele Katalanen sehen keinen Sinn mehr daran, mit solchen Nachbarn in einem Staat zusammenzuleben. Eine junge Andalusierin, Mel Dominguez, die in Katalonien wohnt, hat ein Video bei youtube eingestellt („A mi me hablas en español“), in dem sie gegen die blinde Katalanophobie der Spanier (z. B. auch die ihres Vaters) protestiert. Das Video hatte in 10 Tagen zwei Millionen Besucher. Daraus kann man entnehmen, welche Unruhe und Protest der spanische Hass hervorruft.


Finanzausgleich: statt Solidarität Ausbeutung

Was aber das Fass zum Überlaufen gebracht hat, ist die staatliche Umverteilung der Steuereinnahmen auf die einzelnen „autonomen“ Gemeinschaften Spaniens. Nach jahrelangem Druck hatten das Finanz- und Wirtschaftsministerium endlich die Zahlen bekanntgegeben, wie das Steueraufkommen in Spanien verteilt wird. Dabei stellt sich klar heraus, dass Katalonien seit Jahrzehnten systematisch um seinen wirtschafltichen Ertrag geprellt wird, und dass Spanien seit Jahrzehnten auf Kosten Kataloniens lebt. Die Katalanen haben es jetzt schwarz auf weiß, dass 9 bis 10 % ihres Sozialprodukts statt in ihr Land und in ihre Infrastrukturen investiert zu werden, dazu dienen, um in Spanien Flugplätze zu bauen, die dann keine Fluggesellschaft anfliegt. 39 Flughäfen in Spanien sind im Defizit – mehr als Deutschland überhaupt Flugplätze hat. Schnellbahnlinien wurden radial von Madrid aus ins ganze Land gebaut, um es an seine Hauptstadt zu binden. Doch einzelne Strecken mussten schon wieder stillgelegt werden, weil nur noch 5 Passagiere pro Zug das Angebot nutzten. Spanien hat das größte Schnellbahnbauprojekt Europas. Nur die Linien, die Katalonien benötigt, sind um ein Jahrzehnt verzögert worden.

Der Bau der Mittelmeerschnelltransporttangente Gibraltar-Alacant-València-Barcelona-Perpinyà und weiter nach Lyon-Frankfurt-Schweden wird von Madrid boykottiert, weil Europa aus Kostengründen abgelehnt hat, sie über Madrid zu leiten (Madrid liegt eben nicht am Mittelmeer!). Autobahnen werden in Spanien außerhalb Kataloniens ohne Maut benutzt, weil aus Steuergeldern gebaut. In Katalonien wird jeden Tag den Benutzern das Geld aus der Tasche gezogen. Katalanen zahlen also mit ihren Steuern, dass die spanischen Autobahnen gratis befahren werden können, werden aber im eigenen Lande für jeden Kilometer zur Kasse gebeten.

Zu der Geldverschwendung an sich kommt die Tatsache hinzu, dass Katalonien in eine wirtschaftliche Notlage gebracht wird, die von Madrid verschuldet ist. Katalonien wäre restlos schuldenfrei, wenn es über sein eigenes Geld verfügen könnte. Die gravierenden Einsparungen im katalanischen Gesundheitswesen, die jeder Katalane am eigenen Leib spürt, wären unnötig. Ebenso unnötig wie die Gehaltskürzungen in allen Bereichen. Übrigens ist das Baskenland tatsächlich schuldenfrei, weil es seine Steuergelder selbst eintreibt, wie es Katalonien auch tun möchte. Musste die ETA existieren, damit das Baskenland besser gestellt wurde, als Katalonien? Es ist offensichtlich: Katalonien hat sich bei der Festlegung der Staatsstrukturen nach dem Ende der Diktatur von Madrid über den Tisch ziehen lassen.

Die Schulden, die Madrid allein in den letzten zwei Jahren in Bezug auf gesetzlich und haushaltsmäßig festgelegte Verpflichtungen gegenüber Katalonien aufgehäuft hat, gehen schon wieder in die Milliarden – abgesehen von den 18 Milliarden, die Madrid jährlich aus dem katalanischen Steueraufkommen in politisch genehme Regionen Spaniens umleitet und umverteilt. Von einem solidarischen Finanzausgleich nach bundesrepublikanischem Muster kann hier nicht mehr die Rede sein, da es sich um zehnfach höhere Summen handelt, was in Deutschland das Solidaritätssystem zum Platzen gebracht hätte.

Aus alledem geht hervor: Spanien hat nicht das geringste Interesse, am Verhältnis mit Katalonien etwas zu ändern. Die katalanische Wirtschaftsleistung soll weiterhin dazu dienen, die Finanzen Spaniens zu retten und die wirtschaftlichen Fehlentscheidungen zu decken. Dies kann man wirtschaftstechnisch nur noch so bezeichnen: Katalonien soll weiterhin als Kolonie für Spanien dienen.


Katalonien steht mit dem Rücken zur Wand

Katalonien hat keinerlei auf spanische Gesetze gestützte Hebel in der Hand, um diese Situation zu ändern. Ob die Europäische Union in diese Ausbeutungssituation einzugreifen bereit ist, ist mehr als ungewiss. Denn es ist unsicher, ob die EU für ein gesund wirtschaftendes Katalonien als möglichem mediterranen Musterstaat ein dann marodes Spanien in Kauf nehmen würde. Ob die internationalen Gerichtshöfe sich auf eine Klage Kataloniens gegen Spanien einlassen würden, ist ebenso unsicher.



Kataloniens demokratische Rechte

Was Katalonien allein in der Hand bleibt, sind demokratische Grundmanifestationen, Wahlen, Demonstrationen, Abstimmungen. 2010 gingen 1 Million Katalanen auf die Straße, um gegen die finanzielle und identitäre Drangsalierung durch Spanien zu protestieren. Am 11. September 2012, dem katalanischen Nationalfeiertag, waren es über 1,5 Millionen, die unter dem Lemma „Katalonien, ein neuer Staat in Europa“ demonstrierten. Jedes Jahr gab es erneut diese Demonstrationen, die sich 2013 in Form einer 400 km langen Menschenkette von den Pyrenäen zum Ebre, am 11. September 2014 mit einem Sieges-V auf den größten Transversalalleen Barcelonas und am 11.9.2015 sogar mit 2 Millionen Teilnehmern manifestierten.

Bei den Wahlen am 25.11.2012 wurden mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung 87 von 135 Abgeordneten gewählt, deren Parteien ein Referendum zur Unabhängigkeit oder eine Loslösung von Spanien befürworteten. In dem inofiziellen Referendum vom 9. November 2014 zeigten 2,3 Millionen Wähler bürgerlichen Ungehorsam gegen den spanischen Staat, der den Wahlgang verboten hatte. 80 % von ihnen wählten ein „Ja“ für die Unabhängigkeit. Ein unübersehbares Votum gegen die von Spanien geltend gemachten Besitzrechte an Katalonien, die jede demokratische Entscheidung mundtot machen sollen. Immer verbohrter igelt sich Spanien in diese Position ein und merkt, dass ihr immer mehr Felle davonschwimmen.

Es ist möglich, dass eine mehrheitliche Erklärung eines neuen katalanischen Parlaments die einseitige Loslösung von Spanien erklärt. Dann werden die Juristen miteinander zu kämpfen haben. Hoffentlich wird dann die internationale Presse, deren Korrespondenten fast alle in Madrid sitzen, nicht, wie bisher meist, nur den Madrider Standpunkt vertreten. Es scheint jedenfalls durchaus möglich, dass Spanien Katalonien verlieren wird.

Die Kulturkomptenz der Spanier aller Generationen reicht nicht aus, um ein multikulturelles Spanien zu akzeptieren, in dem z. B. Katalonien auf gleicher Augenhöhe mit Spanien stehen kann.


Prof. Dr. Tilbert Dídac Stegmann und Diplocat

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