Mittwoch, 2. Oktober 2013

Warum will Katalonien ein Referendum über die unabhängigkeit







 


Seit einiger Zeit berichten deutschsprachige Medien häufiger über Katalonien. Ein

Durchbruch war die große Demonstration vom 11.9.2012, die unter dem Motto

„Katalonien, ein neuer Staat in Europa“ stand, und an der wohl über eine Million der

Bürger des 7,6-Millionen-Volkes teilnahm. Berichtet wurde auch über die

katalanischen Wahlen vom Herbst 2012. Denn eine überwältigende Mehrheit von

Abgeordneten verschiedener Fraktionen aus Regierung und Opposition setzt sich

nun dafür ein, dem katalanischen Volk das Recht zuzugestehen, die Frage nach der

Unabhängigkeit selbst zu entscheiden (dret a decidir). Auch für die Unabhängigkeit

selbst gäbe es eine absolute Mehrheit im Parlament. Während die britische

Regierung den Schotten das Entscheidungsrecht einräumte und daher 2014 dort ein

Referendum stattfinden wird, dessen Fragestellung und Zeitpunkt zwischen den

Regierungen verhandelt worden sind, ist die spanische Regierung zu einem solchen

Zugeständnis bisher aber nicht bereit.



Deutschsprachige Medien vergleichen Katalonien nicht nur mit Schottland, sondern

auch mit Flandern, Bayern und Südtirol. Häufig sprechen sie von

rückwärtsgewandter Folklore, aber auch von unzeitgemäßem nationalistischem

Egoismus, sogar von Wohlstandschauvinismus.






Ist Katalonien wirklich auf dem Weg in die Unabhängigkeit? Woher kommt eine so

breite Mehrheit für das dret a decidir? Geht es um nationalen, um ökonomischen

Egoismus, oder um Demokratie? Wird es ein Referendum geben, und wäre ein

unabhängiges Katalonien überhaupt lebensfähig?





1. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit?

Im Januar 2013 veröffentlichten die katalanischen Medien die Ergebnisse einer

Umfrage des katalanischen öffentlichen Meinungsforschungsinstituts Centre

d’Estudis d‘Opinió. Gefragt, ob Katalonien in den nächsten Jahren ein unabhängiger

Staat in Europa werden sollte, befürworteten 49% der Befragten diese Option,

weitere 19% waren eher dafür. Wichtiger noch: 89% waren bereit, das Resultat

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eines Referendums zu dieser Frage auch zu akzeptieren! Die spanische Regierung

wehrt sich dagegen, eine solche Befragung zu veranstalten - die überwältigende

Mehrheit der Katalanen dagegen hält unabhängig von der Position in der Sache ein

solches Verfahren ganz offensichtlich für legitim.







Nach einer Wahlkampagne, die trotz der Wirtschaftskrise vor allem um das dret a

decidir kreiste, wurden mit einer Rekordwahlbeteiligung nun 74 Abgeordnete von

Parteien gewählt, die in einem Referendum für die Unabhängigkeit mobilisieren

würden. Weitere Mitglieder, vor allem Grüne und einige Sozialisten, sind ebenfalls

für das Recht auf Entscheidung als demokratisches Recht, unabhängig von ihrer

Position zur Unabhängigkeit. Eine das Recht einfordernde Resolution wurde mit 85

gegen 41 Stimmen bei 2 Enthaltungen verabschiedet.





Parteiunabhängige Organisationen der katalanischen Zivilgesellschaft wie die

Katalanische Nationalversammlung und Òmnium Cultural beweisen immer wieder,

dass sie in der Lage sind, hunderttausende, vielleicht auch mehr als eine Million

Katalanen für das Recht auf Selbstentscheidung zu mobilisieren.





2. Das Scheitern der Alternativen

Das war nicht immer so. Lange Zeit suchten die Katalanen, ja selbst die

katalanischen Nationalisten, nur nach „spanischen“ Lösungen. Schon die erste

erfolgreiche katalanistische Partei, die 1901 gegründete Lliga versuchte es mit

Regionalismus. Die Mehrheitspartei Kataloniens in der zweiten spanischen

Republik, die Esquerra Republicana de Catalunya (Republikanische Linke

Kataloniens), heute nach Sitzen die zweitstärkste Fraktion im katalanischen

Parlament, hatte ein föderalistisches Programm, bevor sie sich 1992 für

„Unabhängigkeit in Europa“ erklärte. 1976 entstand Convergència Democràtica de

Catalunya, heute mit der kleineren Unió Democràtica de Catalunya

zusammengeschlossen zur Convergència i Unió (Konvergenz und Union, CiU). Ihr

Führer Jordi Pujol lenkte die Geschicke Kataloniens zwischen 1980 und 2003 als

Regierungschef und versuchte in ständigen Verhandlungen mit Madrid, die 1979

gewährte Autonomie des Landes zu erweitern. Heute dagegen unterstützt er ein

Referendum, und er würde persönlich für die Unabhängigkeit stimmen. Artur Mas,

heute Präsident einer CiU-Minderheitsregierung, die das Entscheidungsrecht

fordert, versuchte noch 2006, ein besseres Autonomiestatut zu erreichen.

Auch in der Gesellschaft dominierten lange die autonomistischen und

föderalistischen Positionen. Doch nun, in der 10. Legislaturperiode des

katalanischen Parlaments, halten die Katalanen mehrheitlich ihr Volk für

„erwachsen“ genug, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Zugleich wächst die

Zahl der Befürworter der Unabhängigkeit – was nicht heißt, dass diese auf fremde

Kosten erreicht werden soll.





Das Wachsen des „independentisme“ geschah erst langsam, sein Durchbruch zu

einer die Massen mobilisierenden Alternative hängt mit dem Scheitern eines neuen

Autonomiestatuts zusammen, welches das katalanische Parlament mit einer

Mehrheit von fast 90% 2005 auf Einladung des spanischen Regierungschefs in

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Madrid vorgeschlagen hatte. Spanien ist kein Bundesstaat – ein Autonomiestatut ist

ein spanisches Gesetz. So wurde der Entwurf im spanischen Parlament verwässert,

dann schließlich aber im Jahr 2006 den Katalanen zur Ratifikation vorgelegt. Die

Volksabstimmung sanktionierte den neuen Text bei allerdings geringer Beteiligung

mit einer klaren Mehrheit von 74%. Das spanische Verfassungsgericht hat nach

langer Beratung 2010 gegen die wichtigsten Artikel dieses Statuts entschieden.

Nach Auffassung vieler Katalanen verhielt sich der Zentralstaat nicht loyal mit seiner

Autonomen Gemeinschaft Katalonien, und gar das Gericht verstieß als

nachgeordneter Letztentscheider gegen das Demokratieprinzip. Auf dem Wege der

paktierten Statuts- oder Verfassungsreform scheint es keinen Weg zu einer

Verwandlung Spaniens in einen (plurinationalen) Bundestaat mehr zu geben.

Spanien ist kein Bundesstaat wie die Bundesrepublik, die Schweiz oder Österreich.

Spaniens zweite Kammer ist politisch nur von geringer Bedeutung, auf die

Besetzung des Verfassungsgerichts haben die Autonomen Gemeinschaften

Spaniens keinen Einfluss. Diese haben auch keinen Staatscharakter, sie sind

vielmehr nur Teile des spanischen Staates. Die spanische Verfassung von 1978

erkennt keine andere Nation außer der spanischen an. Sie ermöglicht aber einige

Selbstverwaltung und im inneren Gebrauch konnte die katalanische Sprache einen

offiziellen Status erhalten.





Der Autonomiestaat erweckte auch in Katalonien lange den Eindruck, flexibel genug

zu sein, um auf dem Verhandlungswege eine erweiterte nationale Anerkennung und

eine gerechtere Finanzverteilung zu ermöglichen. Das Urteil des von der Volkspartei

und einigen sozialistischen Politikern angerufenen Verfassungsgerichts hat gezeigt,

dass diese Flexibilität nur eine scheinbare war. Die Mißachtung der erreichten

Verhandlungslösung und sogar des demokratischen Entscheids des katalanischen

Volkes haben die katalanische Zivilgesellschaft mobilisiert und den

„independentisme“ gefördert. Das Urteil überzeugte viele davon, dass eine

Anerkennung der katalanischen Nation und eine Verwandlung Spaniens in einem

Bundesstaat unerreichbar sind. Es scheint nun gerechtfertigt, dass die katalanische

Bevölkerung selbst darüber entscheidet, ob angesichts dieser Situation nun der

Weg der Unabhängigkeit beschritten werden soll.





Viele liberale Sezessionsexperten sehen die Entscheidung über die Trennung ein

grundsätzliches Recht, das nur im Einzelfall beschränkt werden kann. Der

amerikanische Sezessionsexperte Allen Buchanan vertritt dagegen eine sehr

restriktive Auffassung der gerechtfertigten Gründe für eine Sezession. Doch auch er

sieht in Spaniens wiederholter Verweigerung von erweiterten Autonomielösungen

einen möglichen Rechtfertigungsgrund für eine Trennung. In Katalonien ist das

Gefühl, alles (natürlich ausser der Gewalt) versucht zu haben, aber immer wieder

gegen die Wand zu laufen, sehr stark. Es wird ergänzt durch die Erfahrung von

ungerechter Behandlung im spanischen Staat.





3. Die Rolle von Wirtschaft und Kultur

In Katalonien erwirtschaftet 16% der spanischen Bevölkerung etwa ein Fünftel des

Bruttoinlandsprodukts (BIP) und ist für ein Viertel der Exporte verantwortlich. Ein

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ungerechtes Finanzsystem sorgt aber jedes Jahr für einen Nettoverlust von 7-9%

des katalanischen BIP; die Mittel kommen anderen, reichen und armen, Teilen des

spanischen Staats zugute. Der negative Saldo ist vor allem auf eine

unterdurchschnittliche Investition des Staates in die katalanische Infrastruktur

zurück zu führen. Madrids Flughafen, seine Eisenbahnverbindungen und seine

Autobahnen wurden unter hohem Aufwand von Steuergeldern modernisiert.

Barcelona und Valencia verbindet noch immer eine teilweise einspurige Eisenbahn.

Die Vernachlässigung der Infrastruktur schadet der katalanischen

Wettbewerbsfähigkeit. Dennoch ist Katalonien nach BIP immer noch ca. auf Rang 5

in Spanien – als Nettozahler dagegen liegt es mit an der Spitze, bei der

Ausgabefähigkeit pro Kopf dann eher am Ende (ca. Rang 10). Da die Rangfolge

nach Steuereinnahmen nicht respektiert wird, kann Katalonien weniger pro

Einwohner ausgeben als andere Autonome Gemeinschaften. Davon sind besonders

die Bürger betroffen, die auf die öffentlichen Schulen und die

Gesundheitsversorgung angewiesen sind, da sie sich private Anbieter nicht leisten

können.





Bestimmungen des Statuts von 2006, das diese aus katalanischer Sicht ungerechte

Behandlung korrigiere sollte, wurden vom spanischen Verfassungsgericht außer

Kraft gesetzt bzw. von der spanischen Regierung nicht eingehalten. Versuche, ein

neues, gerechteres Steuerregime auszuhandeln, scheiterten letztmalig im Jahre

2012. Heute erhält Katalonien von der spanischen Regierung Kredite zur

Finanzierung seines Defizits. Abgeführte Steuermittel fließen so zurück – aber

gegen Zinsen.





Allen Katalanen ist klar, dass auch nach einer etwaigen Mehrheit für die

Unabhängigkeit Verhandlungen mit der spanischen Regierung notwendig sind, um

die Activa und Passiva des spanischen Staats zu verteilen – aber dann

gleichberechtigt. Auch die für die Unabhängigkeit eintretenden Kräfte sind sich

bewusst, dass sich das Land weiter an der Rückzahlung der spanischen

Staatsschulden beteiligen muss.





Der spanische Staat hat die Finanzkraft der Katalanen stets und im Übermaß

benutzt. Dieser „Solidarität“ hat er aber auf der anderen Seite nie etwa durch die

Anerkennung der katalanischen Nation oder der Gleichberechtigung ihrer Sprache

entsprochen. Die Sprache, wichtiges Element der katalanischen Identität, kann

weiterhin in den spanischen Institutionen nicht gleichberechtigt verwendet werden.

In Katalonien dagegen ist auch die spanische Sprache offiziell. Die Rolle dieser

Weltsprache steht in der Diskussion um das Recht auf Entscheidung nicht zur

Debatte. Selbst für die Unabhängigkeit eintretende Kräfte verwenden auch das

Spanische. Der Versuch, im Statut von 2006 beide Sprachen in Katalonien bei

Rechten und Pflichten endgültig gleichzustellen, scheiterte am Verfassungsgericht.

Dagegen stellt die gegenwärtige spanische Regierung (manchmal mit Unterstützung

der obersten Gerichte) die Verwendung der katalanischen Sprache als

Unterrichtssprache (immersió) für alle Kinder, eine Maßnahme, die die

Beherrschung beider Sprachen sichern soll, nun wieder in Frage.





Während von den katalanischen Bürgern ökonomische Solidarität in einem Maße

eingefordert wird, das den Erfolg der katalanischen Wirtschaft in Frage stellt und

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besonders die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesenen Katalanen schlechter

stellt, gibt es auf der anderen Seite keine nationale Anerkennung, und die

katalanische Sprache bleibt auf einen regionalen Rang verwiesen.





4. Gibt es ein Referendum?

Doch der lauter werdende Ruf nach einem Referendum über die Unabhängigkeit

kann nicht nur durch diese ja schon historischen Faktoren erklärt werden. Diese

Faktoren haben im Verein mit dem Scheitern des Statuts vielmehr in Katalonien

neue Energien geweckt. Während das Gericht zwischen 2006 und 2010 noch über

die Verfassungsmäßigkeit des Statuts beriet, mobilisierte sich die katalanische

Zivilgesellschaft. In rechtlich unwirksamen „Referenden“ in etwa der Hälfte der

katalanischen Gemeinden äußerten sich 2009-2011 8-900000 Bürger (jeder vierte

Wahlberechtigte) zur Frage eines verbindlichen Referendums über die

Unabhängigkeit, und zwar fast ausschließlich positiv. Dabei durften nicht nur 16-18

jährige noch nicht wahlberechtigte Katalanen, sondern auch gemeldete Ausländer

teilnehmen, auch wenn dies die Wahlbeteiligung senkte. Dies war ein wichtiges

Zeichen: weder Sprache noch ethnische Herkunft sollten von der Beteiligung am

Entscheidungsprozess ausschließen. Selbst die für die Unabhängigkeit eintretende

Kräfte wenden sich an Katalanen jeder Herkunft, Abstammung und Sprache. Offene

Grenzen, auch die Möglichkeit der Doppelstaatsangehörigkeit in einem

unabhängigen Katalonien stehen in Aussicht. Die Aufbruchstimmung in der

Zivilgesellschaft wirkte ansteckend. Neue Bewegungen und junge, für

demokratische Partizipation eintretende Kräfte entstanden innerhalb und außerhalb

der Parteien.





Trotz aller Signale von Nichtdiskriminierung, Verhandlungsbereitschaft und dem

angesichts der katalanischen Geschichte selbstverständlichen Gewaltverzicht

verweigert Spanien die demokratische Abstimmung und besteht darauf, dass

letztlich nur die gesamte Bevölkerung, die in den (wie auch anderswo) durch

dynastische Heiraten und Kriege zustande gekommenen Staatsgrenzen lebt, zur

Ausübung der Demokratie berechtigt sei. Spanien verhält sich hier anders als

Großbritannien oder Kanada. Während im Vereinigten Königreich die Anerkennung

Schottlands als Nation nie in Frage stand, was die Zulassung eines Referendums

für 2014 erleichterte, und während es in Quebec schon zweimal zu vergleichbaren

Abstimmungen über die Zukunft dieses Landes im kanadischen Bundesstaat kam,

ohne dass die Bundesregierung dagegen einschritt, erkennt Spanien die Existenz

eines katalanischen Volkes nicht an und versagt bisher die Erlaubnis zu einem

Referendum.





Das katalanische Parlament hat im März dieses Jahres die Regierung aufgefordert,

im Dialog mit der spanischen Regierung dahin zu wirken, eine Abstimmung über die

Zukunft Kataloniens zu ermöglichen.1 Am 26.7. ersuchte der katalanische

Regierungschef Artur Mas daraufhin den spanischen Ministerpräsidenten Rajoy

formell um die Aufnahme von Verhandlungen, um die Voraussetzungen einer

Volksabstimmung in Katalonien zu schaffen. Die spanische Regierung hat dies

1 Von 135 Abgeordneten stimmten nur 28 dagegen (3 Enthaltungen).

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immer abgelehnt. Statt Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, kam es wiederholt zu

Drohungen, etwa mit der Abschaffung der Autonomie oder mit polizeilichen oder

gesetzlichen Maßnahmen, falls katalanische Institutionen eventuell auf eigener

Rechtsgrundlage das Volk zur Unabhängigkeit befragen. Daher wird nun diskutiert,

ob nicht die Unmöglichkeit der demokratischen Willensäußerung des katalanischen

Volkes in einem verlässlichen Referendum am Ende nur die Möglichkeit offen lässt,

in Katalonien Neuwahlen mit plebiszitärem Charakter und zum alleinigen Thema der

Unabhängigkeit einzuberufen, und bei entsprechender Mehrheit dann

gegebenenfalls die Unabhängigkeit zu verkünden.

5. Zur Lebensfähigkeit eines unabhängigen Kataloniens

Ein unabhängiges Katalonien wäre kein Mini-, sondern ein Mittelstaat in Europa.

Geographisch wäre es vergleichbar etwa mit der Schweiz, Belgien, Dänemark, den

Niederlanden oder der Slowakei, und es überträfe einiger dieser Staaten an

Einwohnerzahl. Das Katalanische hat mehr Sprecher als viele der offiziellen EUSprachen,

und das katalanische Pro-Kopf-Einkommen liegt über dem europäischen

Mittel. Vielfach wird behauptet, Katalonien würde im Falle der Unabhängigkeit aus

der EU ausgeschlossen. Die EU-Verträge sehen zwar den Austritt, nicht aber den

Ausschluss eines Landes vor. Die Katalanen sind seit 1986 EU-Bürger, Katalonien

erfüllt und erweitert seitdem den gemeinschaftlichen Besitzstand (acquis

communautaire) und lässt sich also nicht mit einem Beitrittskandidaten vergleichen,

der sich erst hinten an stellen müsste. Die katalanische Bevölkerung steht der

europäischen Einigung und ihrer Intensivierung positiver gegenüber als die meisten

Völker der Mitgliedsstaaten. Nur schwer kann man sich vorstellen, dass man den

Katalanen den europäischen Pass entziehen und den physischen und juristischen

Personen in Katalonien die in der EU erworbenen Rechte wegnehmen kann, wenn

die Bürger dort doch bereit und fähig sind, die damit verbundenen Pflichten zu

erfüllen; Katalonien wäre übrigens (im Gegensatz zum Rest Spaniens) Nettozahler.

Wohl nur wenige (Spanien eingeschlossen) hätten angesichts der geographischen

und internationalen Lage ein Interesse, Katalonien gegen seinen Willen aus dem

Euro auszuschließen, falls dies rechtlich möglich ginge. Auch die über 4000

internationalen Unternehmen (darunter ca. 570 deutschen) in Katalonien haben

Interesse an weiter bestehenden offenen Grenzen und einer gemeinsamen

Währung. Wichtige multinationale Unternehmen haben sich jedenfalls bisher von

der katalanischen Forderung eines dret a decidir mit dem möglichen Ergebnis der

Unabhängigkeit nicht davon abschrecken lassen, weiter in Katalonien zu

investieren, zumal wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie der Verkehrskorridor

entlang des Mittelmeers von einer Unabhängigkeit sicher profitieren würden.

An der langfristigen ökonomischen Lebensfähigkeit eines unabhängigen

Kataloniens bestehen selbst im Falle einer zur Regelung der zukünftigen

Repräsentanz Kataloniens in den EU-Institutionen eventuell notwendigen

Übergangslösung im Verhältnis zur EU (bspw. analog der Situation Norwegens oder

der Schweiz) keine Zweifel, trotz des kurzfristig in Spanien zu erwartenden Boykotts

katalanischer Waren (es wäre nicht der erste). Schon jetzt ist der spanische Markt

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auch aufgrund der Krise dabei, seine einst überwältigende Bedeutung für die

katalanische Wirtschaft immer mehr zu verlieren.







6. Einige Bemerkungen zum Schluss

Nach den Erfahrungen einiger Balkanstaaten ist es verständlich, auch den

demokratischen Wunsch nach Unabhängigkeit erst einmal kritisch auf seine

möglichen Auswirkungen zu untersuchen. Doch die europäische Geschichte kennt

auch friedliche Sezessionen. Norwegen trennte sich 1905 friedlich von Schweden,

Island 1944 von Dänemark, Tschechen und Slowaken entschieden 1993

einvernehmlich sich zu trennen, und handelten die Bedingungen aus. 2006 trennte

sich Montenegro nach Volksabstimmung von Serbien. In diesen Fällen gab es meist

funktionierende Selbstverwaltungsorgane und Vielparteiensysteme. Diese

Bedingungen gibt es auch in Spanien, und die weitere Mitgliedschaft in der EU mit

ihren offenen Grenzen könnte unmittelbar negative Auswirkungen einer Trennung

minimieren helfen.





Man kann sicherlich kaum behaupten, dass die Unabhängigkeit neuer Staaten in

Europa schlechthin die Menschenrechts- oder Minderheitssituation verschlechtert.

Man denke an Belgien (1831), Norwegen (1905), Finnland (1917), Irland (1922/44),

aber dies gilt auch für die baltischen Staaten (1990), Slowenien, Kroatien und

Makedonien (1991) und selbst Bosnien-Herzegowina (1992) und auch für

Montenegro (2006). Fälle wie Belarus können hier kaum angeführt werden, da im

Vorgängerstaat (UdSSR) die Menschenrechte auch nicht respektiert wurden.

Spanien, das doch stolz auf seinen Übergang zur Demokratie ist, sollte sich dem

Wunsch nach einer Abstimmung über die Zukunft Kataloniens nicht länger

verschließen, und im Falle einer Mehrheit für die Unabhängigkeit in Verhandlungen

über diese eintreten.





Das Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass Spaniens

Verfassung für die Verwandlung in einen plurinationalen Bundesstaat nicht zur

Verfügung steht. Auf katalanischer Seite hat dies zu einem „Erwachsenenwerden“

der Gesellschaft beigetragen. Die Unabhängigkeit erscheint vielen nun plausibler,

auch legitimer als die Autonomie, die Abstimmung über diese Alternative erscheint

als demokratischer als Reformen des Statuts, die nachher einseitig wieder

einkassiert werden. Nach langen Jahren einer unbestimmten nationalen Zukunft hat

die katalanische Zivilgesellschaft nun ein mögliches Ziel, das mobilisierend wirkt und

die Bürgerbeteiligung verbessern kann. Es geht nicht mehr in erster Linie um die

Verteidigung einer in der Vergangenheit geformten Identität, sondern um

demokratische Selbstbestimmung und eine gemeinsame Zukunft. Der Wunsch nach

einer Abstimmung, die ja die Anerkennung eines katalanischen „demos“ bedeutet,

sollte nicht erschrecken, sondern als positive Entwicklung zu mehr und einer

qualitativ besseren Demokratie verstanden werden.





* Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politikwissenschaft an der

Pompeu Fabra Universität in Barcelona

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