Mittwoch, 30. Januar 2013

Salvador Espriu und Europa



Salvador Espriu (1913 - 1985), der dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der katalanischen Literatur. In seinem lyrischen, prosaischen und dramatischen Gesamtwerk, das einen außergewöhnlichen Reichtum und Tiefgang birgt und dabei eine unverkennbar persönliche Note offenbart, schuf Espriu eine zeitgenössische Weltansicht, die in erster Linie auf den drei Urkulturen des Mittelmeerraums wurzelt: der egyptischen, der jüdischen und der griechischen, welche Espriu dabei aber mit seiner eigenen katalanischen Kultur bereichert hin zu einer universellen Vision und Deutung der Schwierigkeiten des Menschen im Laufe der Geschichte.

Der folgende (wenig bekannte) Text verdient besondere Aufmerksamkeit, vor allem im Hinblick auf die aktuelle Situation in Katalonien. Er zeigt auf, dass unsere Beziehung zu und unser Verständnis von Europa keineswegs das zufällige Ergebnis irgendwelcher Umstände sind, sondern viel weiter reichende historische Wurzeln haben. Bereits damals war Espriu also Sprachrohr für jene Basis, die unsere Nation seit ihren Ursprüngen im 9. Jahrhundert bestimmt.

Lluís Calderer, Autor für die Stiftung 'Independència i Progrès' (Unabhängigkeit und Fortschritt)

Man hat mich gebeten, über mein Europa zu sprechen

Cum grano salis.
Für Joan Crusellas.

Ich stamme aus einem kleinen Land, ohne wirkliche Flüsse, oft nach Regen dürstend, arm an Bäumen, Wäldern und Flachland, dafür reich an Bergen und im Osten an ein altes Meer grenzend, das den schwierigen und blutigen Dialog zwischen drei Kontinenten unterhält.
Mit geschlossenen Augen sehe ich ein paar Palmen, die sich trotz des Windes nicht bewegen und mein Land am Mittag schließen. Im Norden gibt es Morastgebiete und im Westen befinden sich andere Länder, welche die Wüste andeuten - jene edlen, ausgedörrten und geistigen Schwesterländer, die ich so sehr liebe.

Hohe Gipfel brechen mein Land entzwei, aber die gleiche Sprache wird auf beiden Seiten gesprochen, so auch auf ein paar klaren Inseln weit draußen im alten Meer, und auf einer anderen Insel, noch weiter weg, die heute zu einer anderen Macht gehört.

Wie vielfältig mein kleines Land ist und wie sehr es während Jahrhunderten und Jahrtausenden leiden musste, unter der Gewalt verschiedener Nationen und den grausamen Bürgerkriegen, die innerhalb seiner Grenzen stattfanden und über die Palmen und Sümpfe, das trockene Bergland und die Wellen hinaus!

Denn unser langes Leiden weiß sehr wohl, dass jedweder Krieg zwischen Menschen, auch der seltsamste oder größte Kampf zwischen Menschen, letztlich nur ein Bürgerkrieg ist und uns allen Leid und Trauer, Zerstörung und Tod bringt.

Es ist aus diesem Grunde, dass unsere Hoffnung -in meinem Traum, bereits Wirklichkeit-, eine höhere Einheit bald schon anzunehmen, so tiefgehend ist; eine Einheit, die den offenen und wunderschönen Namen jener Tochter von Agenor trägt, welche ein weiser Mann bei ihrer unbeschreiblichen Wanderung von der phönizischen Küste hin zu den Stränden von Kreta beobachtet hat, und dabei unsere Sprache und Geschichte aufrecht erhält.

Wenn der Tag kommt, müssen wir den ersten denkwürdigen Schritt unternehmen hin zu dieser höchsten Einheit und Gleichheit zwischen den Menschen.

Und vielleicht wird es uns dann gestattet sein, unsere Pilgerung, frei von gesellschaftlichen Klassen, religiösem Hass, grausamen und ungerechten Differenzen der Hautfarbe wegen, durch den Raum hin zur höchsten Erleuchtung zu beginnen und, ohne Furcht vor dem Nichts, Gottes geheimnisvolle innere Wege zu folgen, jene unendlichen, freien und zugleich notwendigen Wege der wahren Güte.

Unsere Hoffnung soll nicht getäuscht, unser Vertrauen nicht verhöhnt werden - es ist diese unsere bescheidene Bitte.

Salvador Espriu, 1959
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